Klassenkafé

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Es eröffnet ein neues Café seine Türen
im Norden einer mittelgroßen Stadt
der vor einer Hektode
einst Ort von Konsumgüterindustrie,
seit Dekaden umgeben
von Instituten wissenschaftlicher Art.

Wo sich unabhängig gründete
das wohl älteste Zentrum der Jugend
wo die Szene der Hausbesetzung
kämpfte
gegen Sanierungsprogramme
für junge Familien.

Wo in Tagen des Chaos
den Menschen der Freiheit
von staatlicher Seite
die ihre genommen ward,
was jenen gefiel.

Und nun: dort eröffnet ein neues Café
wo Menschen sich scharen
um glasige Scheiben.

Wie es dort aussieht?

Akkurat gestaltete Wände,
keine Schwarzmalerei,
nur natürliche Brauntöne.
Eine stilisierte Weltkarte,
so einfach und schlicht,
wie ihre Sicht auf die Welt.
So groß wie der Vorsatz
noch größer zu denken,
global und vernetzt,
im Weltbürgerstil.

Auf der Innenseite der
glasigen Scheiben
exotische Töne:
independent, alternative
melodic deephouse
trible sounds

Orientalische Klänge,
Trommeln.
Atmosphärische Gesänge
aus den Tiefen der Wälder
und den Weiten der Wüste
des globalen Südens,
erfolgreich integriert
ins musikalische Nichts
europäischer Popkultur.

Gebotene Waren und Leistungen
pflastern die emporsteigenden Wände
dieser Altbau-Immobilie
mit Symbolen der westlichen Welt,
des selbstverschuldeten Erfolgs
künstlerischer Karrieren.
#sfhollywoodhillsfont

Auf der anderen Seite
in der Ecke,
hinter der Tür,
dekorative Demoflyer
unberührt im Infoschrank
neben der Produktinformation
einer erlesenen Auswahl an Teesorten.

Doch vor allem aber,
so sagt mir ein Schild:
Member of
Speciality Coffee Associaton of
Europe
since 2015.
Ein international
agierender Verband
von Kaffeespezialisten
und -liebhabern
aus ganz Europa
– der Festung. dem Bollwerk –
die Wert legen auf
ausgewählte Rohstoffe
aus den besten Anbaugebieten.
Association of Europe
of Europe
Europe…

Was man dort kaufen kann?

…Indonesien Java
– Aethiopien Guji
– Guatemala Antigua
– Nicaragua La Ilusión
– Mexiko Las Chicharras
– Tanzania Iyela
– Brasilien California
– El Salvador La Dalia

Wenn die Weißen wieder einmal
die Schwarzen retten
mit Kolonialwarenhandel,
als Baristae guten Geschmacks.
Wenn die Weißen wieder einmal
sich selbst retten
mit Lemonaid und Biozisch.

Die Milch wahlweise
Bio, Soja, Hafer.
Der Kuchen vegan,
der Kaffee fairtrade.

Was Umweltschutz für mich bedeutet?

To-Go Becher von
Villeroy & Boch
Bodum French Press
oder Frank Green?

DasEis.eu
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Nur Männer abonnieren Bio-Eis.

Taste of HEIMAT –VALENTIN THURN
regional erzeugte Lebensmittel
direkt vom Erzeuger
für die Konsumentin von heute
mit Qualitätsbewusstsein
im Lebensmittelsektor.

Ausweitung eines
ökologischen Bewusstseins
oder Entwertung von Idee und Praxis?
unkritisierbar weil moralisiert

Wer dort hingeht?

Weiße Menschen.
Welche?

Derart:
schön, alternativ, individuell,
ambitioniert, fleißig, modern,
zukunftsorientiert, voll Perspektiven
und Ideale, und Moral? Gut gebaut,
modebewusst, sportlich, körperbetont.
fit for fun & business

niedergelassen
in Secondhand-Sesseln
der vorigen Generation
die Schuld sitzend
auf Symbolen ihrer selbst
das sportliche Rennrad
sicher verschlossen
am hauseigenen Ständer
die Fahrradtasche platziert
nebst auf dem Sessel
sicher im Blick.
Daneben der Fahrradanhänger
ohne die Kleinen darin
mit sauber platzierten
Stickern in grün
Gegen TTIP und CETA
für die Umwelt
und die Kinder.

Junge bärtige Männer
mit Haarwürsten und Dutts
schwebend über den Gesichtern
wie Heiligenscheine
oder ganz ohne Haar,
rein, weiß und glänzend
wie ihr Charakter,
ihre Weste,
wenn man sie fragte.

Junge bärtige Männer
in bunten Hemden
mit ausgefallenen Mustern
frisch gebügelt,
abgehoben
vom festgeschnallten Gürtel,
die Süddeutsche Zeitung
aufgeschlagen – DinA1 –
ausgebreitet auf den übereinander
geschlagenen Knien
nebenbei
wird wild gestikuliert über
tagespolitische Themen
weil es zu mehr nicht reicht.

Die Brille geputzt
mit kunstvoll bestickten Tüchern
am Arm die goldene Uhr
misst sie Zeit oder Geld?
Oder beides? Oder nichts?
Die Lederschuhe
fein säuberlich gebunden.
Bunte Tücher
mit mandalaischen Kreisen
um Köpfe und Hüften.

Junge Frauen
in bunten Kleidern und Röcken
die Sonnenbrille über der Stirn.

Klassendünkel,
mit einer naiven, unhinterfragten
Zustimmung zur
ästhetischen Hierarchie
begründet und legitimiert.

Mit gutem Gefühl,
der Weltrettung gewiss,
selbstzufrieden,
der Verantwortung nicht nur bewusst,
gereinigt vom schlechten Gewissen,
ethisch disponiert und überlegen.
Überlegen?
Spenden? – man lebt ja schon gut.
Handeln? – man lebt ja schon gut.
Rebellieren nicht nötig,
die Kultur des Guten
tut das Ihre.

Junge aufsteigende Unternehmer.
Kleingewerbe.
Start-Up-Firmen.
Akademiker*innen.
Student*innen,
deren Traum dies ist?
Angestellte,
deren Traum dies ist?
Denen Träume reichen?
Es in die eigene Hand nehmen.
Geschäftsmodell:
Selbstverwirklichung.
Ausbeutung gegen Ausbeutung?
In naturfarbenen T-Shirts,
zu groß geraten,
so weit, wie ihr Blick
auf die Zukunft gerichtet.
Die Ihre,
nicht jene der anderen,
nebenan.

Keramische Kunst
gefüllt mit vitalem Grün
– Leben und Wachstum? –
zieht die Grenze
des erhabenen Olymp
zur Außenwelt
der sozialen Unterschicht
moralischer Verwerflichkeit.

Hiervon jenseits,
unbeachtet,
unsichtbar,
ein normales Café
mit normalem Kaffee.

Wer dort sitzt?

Türkische Männer und Frauen
essen türkische Speisen
trinken türkischen Tee
jemand Weißes dort?
Zwei müde Kollegen
einer Reinigungsfirma.
Ihr Erstjob von Vieren?
Und meine kartoffelige Wenigkeit,
deren Schicht gleich beginnt.

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Gezeichnete Muster
in der schaumigen Milch?
Das Auge trinkt weniger mit
als die Gesellschaft
den Kaffee verdirbt.
Die Gesellschaft.
Die Entscheidung darüber
wo ich sitze,
ob hier oder dort,
ist eine der leichtesten
in diesen Tagen.

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Eine farblose Beobachtung
in pessimistischer Manier,
so schwarz-weiß wie die Schrift
auf dem Papierbogen
zumindest Kontraste
sichtbar werden lässt
und Raum gibt zum Spiel
mit der eigenen Kritik.

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